Leseprobe aus der überarbeiteten Neuauflage von «Kannibalen der Eiszeit - Roman aus den Tagen der Sintflut» von Franz Heinrich Achermann
Vorwort
«Versetzen wir uns ins erste Morgendämmern dieser Kultur, wie sie aus nebelhaften Fernen zu uns herüberleuchtet …»
So schrieb einst Franz Heinrich Achermann in seinem Roman «Kannibalen der Eiszeit», der erstmals im Jahr 1920 erschien. Im Frührot der Menschheit spielt dieses Abenteuer des Schweizer Schriftstellers, der vor allem in Deutschland auch als «Karl May der Schweiz» betitelt wurde.
Die Urlandschaft war in diesen Tagen die Arena für den Kampf ums Dasein, zwischen den Riesen der tropischen Tierwelt und dem spärlich bewaffneten Menschen. Gutes und Böses in Gestalt verschiedener Stämme und Götterglauben, aber auch in jedem Menschen selbst, standen sich damals schon erbittert gegenüber. Dieser Überlebenskampf war handgreiflich und brutal.
Jetzt ist dieses prähistorische Abenteuer nach 100 Jahren wieder da: sprachlich abgestaubt, gefegt und frisch publiziert von Wortfeger. Der Roman erhebt keinen Anspruch auf historische oder archäologische Korrektheit. Vielmehr ist er unterhaltsame Fiktion über diese frühe Menschenzeit.
Die veraltete Erzählweise Achermanns hat Wortfeger sanft modernisiert und bearbeitet. Schön, darf ich als buchverrückte Schweizerin Ihnen diesen Roman der Schweizer Abenteuerliteratur frisch erzählen.
Ich wünsche Ihnen ein spannendes Lesevergnügen.
Herzlich, der buchverrückte Wortfeger
Tanja Alexa Holzer
Das Einhorn
(1. Kapitel)
Über die Moore des Thanuwastromes flackert ein blutiges Licht. Aber es ist kein Morgenrot, denn Mitternacht ist erst vorüber und undurchdringlicher Rauch verhüllt jeden Strahl von oben.
Fern im Osten bohrt ein wildauffahrender Vulkan, das Brüllhorn, seinen blutigen Schlund in den feurigen Atem, den der Gott der Tiefe heute Nacht mit einem fürchterlichen Fluch ausgestossen hat. Noch fliesst dort die zähflüssige Lava wie blutiger Geifer aus dem Rachen des Tiefengottes auf seine Schultern nieder. Sie leuchtet wie ein Gletscher im Morgenrot.
Der Gott der Tiefe hat einen Fluch geheult, dass die Erde zitterte, das Wasser des Thanuwastromes sich stauten und die Tiere des Waldes auf ihrer Fährte aufhorchten.
Dort im Moortümpel streckt der Altelefant lauschend seinen gewaltigen Rüssel empor und fächert mit seinen Ohren verdächtig nach dem Rot im Osten. Dicht neben ihm tauchen die hässlichen Nüstern eines aufgeschreckten Flusspferdes aus dem Wasser empor und pusten dem leuchtenden Vulkan glühende Nebelschwaden entgegen. Und das blutige Leuchten des Brüllhorns flackert über das nächtliche Moor, über Urwald und Steppe, wie ein glühendes Meer, vermischt mit dem Frührot des erwachenden Tages, und duckt sich endlich wie ein nächtlicher Schleicher vor dem strahlenden Licht der Gottheit in der Höhe.
Der Tag erwacht mit einem Jubel der Erlösung aus dem Druck der Finsternis.
Aber in der moorigen Steppe, wo die Morgennebel aufsteigen, ist es unheimlich still. Starr wie der Wurzelstock eines gefallenen Urwaldriesen ragt aus den Birkenbüschen der Kopf eines Ungeheuers empor, bei dessen Anblick die Riesen der Steppe fliehen und sich auch das Herz des Mutigsten zusammenkrampft.
Fast wildpferdähnlich, aber langhaarig und von Elefantengrösse, trägt es wie das Rhinozeros ein gewaltiges Horn, aber nicht auf der Nasenscheidewand, sondern mitten auf der Stirn zwischen den Augen. Wie moosbewachsene Felsplatten hängen ihm die harten Hautwülste über die Flanken, und wenn das armselige Horn nicht wäre, so könnte man aus der Ferne seinen Kopf durchaus für den eines ungeheuren Raubvogels zu halten.
Unbeweglich steht es schon seit Morgengrauen. Auf seinem borstigen Rücken weidet eine Schar Madenvögel. Für das leckere Mahl, das sie dort in der handdicken Haut finden, übernehmen sie anstelle der schlechten und boshaften Augen ihres Wirtes die Sicherheitswache.
Plötzlich fliegen die Madenvögel auf. In diesem Augenblick geht ein Zucken durch das Tier. Hoch hebt es den gewaltigen Kopf mit seinen geblähten Nüstern und böse blicken seine tückischen Äuglein in die entgegengesetzte Richtung. Von dort muss der Feind kommen.
Und er kommt!
Dort schleicht er lautlos heran, den weissen Bauch an die Erde gedrückt, die glühenden Augen auf den gewarnten Feind gerichtet: der Zahntiger.
Er ist das einzige Lebewesen, welches sich an das Einhorn wagt, und dieses Wagnis gründet in seinen Waffen: Aus dem Oberkiefer blitzen zwei seitlich zusammengeplattete, dolchartige Reisszähne, die noch handlang über den geschlossenen Unterkiefer herabragen und ihm das Aussehen eines menschenfressenden Dämons geben.
Hässig blicken die sonst so dumpfen Augen des Einhorns zu dem heimtückischen Schleicher, der sich nur drei Mannslängen vor ihm niedergeduckt hat, als wolle er in kalter Grausamkeit den Sprung berechnen.
Nichts regt sich in weiter Umgebung. Denn vor dem Einhorn fliehen die Riesen der Moore und die Räuber des Urwaldes, bis auf einen – und der ist da!
Zeugen des unvermeidlichen Kampfes sind nur die Madenvögel in den Zweigen der nahen Bäume. Leise stellt das Einhorn seine Hinterbeine näher an die Vorderpfoten, um plötzlich das Horn zum Stoss senken zu können.
Mit ungeahnter Flinkheit, jäh wie ein Raubvogel in der Luft, stösst es vor – ins Leere. Denn der Zahntiger ist bereits lautlos an seinen Hals gesprungen und hat in schlangenhafter Umarmung seine schneeweissen Dolchzähne tief in den Hals gegraben. Der Zahntiger trinkt normalerweise nur Blut, vielleicht wühlt er sich noch in den Brustkorb seines Opfers, um dort in den blutreichen Organen zu schlemmen.
Einen Moment steht das Einhorn still. Dann ein tiefes Gurgeln, ein Schnauben wie der Orkan im Urwald, und fort schiesst die gewaltige Masse, krachend, ächzend, stöhnend vor Wut und Schmerz, fort durch Busch und Moor und Steppe. Hoch fliegen die Schollen, armdicke Birken, Erlen und Mehlbäume, gebrochen wie dürre Zweige, bilden seine Spur. Eine rasende Wut und eine wahnsinnige Angst treiben das Tier über Stock und Stein, über Berg und Tal. Der Zahntiger hält, er hält wie die Zecke an der Haut des Bergschafes, und keine noch so verzweifelte Anstrengung vermag den unheimlichen Beisser abzustreifen. Jeder Bewegung seines Opfers weiss er sich anzupassen.
Dort wälzt sich das gewaltige Tier in seinem Schmerz, verdreht seine Augen in wahnsinniger Todesangst, horcht wieder und wälzt sich weiter, schnellt auf und stürzt sich wild aufbäumend wie ein verwundeter wilder Hengst in einen Moortümpel, dass die Schlammmassen emporzischen. Dort dreht es sich um sich selbst. Nur noch ein kochender Strudel zeigt die Stelle, wo der Kampf in der Tiefe weiterrast. Wasser und Schlamm färben sich rot.
Wessen Blut ist es?
Da taucht der Kopf des Ungeheuers, der die Länge eines Menschenrumpfes hat, aus den kotigen Breien des Moortümpels empor und an seinem Horn hängt ein zerrissener Fleischfetzen des Zahntigers.
Ehrliche Bosheit hat zuletzt über schleichende Heimtücke gesiegt, aber hinter dem Ohr des Einhorns rinnt eine Blutsträhne über den Hals, und da entfährt dem siegreichen Tier aus Maul und Nüstern ein unbeschreiblicher Ton: triumphierend und unheimlich zugleich.
Langsam steigt es an Land, kottriefend, um wieder wie angewurzelt ins Leere zu starren. Schon lässt sich der erste Schmarotzer auf seinem Rücken nieder, um aber gleich wieder aufzufliegen.
Erneut ein Feind? Das bis zur Verzweiflung gehetzte Tier nimmt augenblicklich Stellung an und erwartet ihn mit blutunterlaufenen Augen, das Horn bereit. Wo ist er?
Dort im hohen Riedgras ist er in gebückter Stellung. Auf den ersten Blick möchte man auch ihn für ein anschleichendes Tier halten. Denn seine einzige Bekleidung ist ein Wolfsfell mit Schweif. Dieses Fell ist den Formen seines Körpers so tadellos angepasst, dass er wohl hineingeschlüpft sein muss, als es noch warm und blutig war. Das Schädeldach hat er in der Haut gelassen und so hängen ihm die zwei oberen Reisszähne über die Stirn hinab. Die urwüchsig vorstehenden Gesichtsknochen, die weit auseinanderliegenden Augen mit den buschigen Überaugenwülsten und der zurückweichenden Stirn, der wilde Bart und das lange, von Busch und Strauch verstrubelte Kopfhaar, das ihm in die Stirn hängt und seine Augen so unheimlich hervorleuchten lassen – dies alles verleiht ihm auf den ersten Blick den Ausdruck einer ungezügelten Wildheit. Nur der spitze Steinkeil in seiner Linken und die zugeschabte Keule in seiner Rechten verraten, dass er überlegt handelt.
Nun aber schaut kalter Schrecken aus seinen Augen. Diesen Feind scheint er hier nicht erwartet zu haben. Lautlos will er sich wieder zurückziehen, aber vielleicht etwas zu hastig. Denn rasend schnaubt das Untier heran.
Ein Warnruf, und wie aus dem Boden gewachsen taucht eine Herde von über zwanzig Fellgestalten auf, um beim Anblick des herankeuchenden Ungeheuers wie eine Schar aufgescheuchter Springmäuse über Stock und Stein zu fliehen. Dort rennt einer in überstürzter Hast zu den nahen Föhren, aber er hat sie noch nicht erreicht, als er hinter sich ein Schnauben hört, einen Schrei ausstösst, unter der Wucht des fürchterlichen Hornes hoch in die Luft fliegt und als knackende Masse unter den Pfoten des Ungetüms förmlich im aufgestampften Moorboden verschwindet. Im Moment des Hornstosses erhält das rasende Tier zwar einen sausenden Keulenwurf an sein rechtes Auge, aber dieser Mückenstich steigert höchstens seine Wut. Da fliegt hoch über die Büsche auch der mutige Werfer, der den Tod von seinem Kameraden ablenken wollte. Und schon ist das unberechenbare Tier im hohen Dickicht verschwunden.
Ein Jagdruf ertönt und da kommen sie von allen Seiten, zaudernd und den Schrecken im Gesicht:
«Er war es!»
«Wer?»
«Der Gott der Tiefe!»
«Es war das Einhorn», entscheidet ein braungebrannter, starkknochiger Jäger, wohl der Führer des Trupps. Denn er trägt um seinen sehnigen Hals an einem gedrehten Hundsdarm eine Reihe gelochter Reisszähne vom grossen Höhlenlöwen. In seinen wildabspringenden Barthaaren zeigen sich bereits einige weisse Strähnen. Sein Auge aber flackert noch jugendlich und voller Tatendrang.
«Wo ist Tjuwal, mein Sohn?», fragt er nun hastig und mustert die Reihen der Seinen ängstlich.
«Er hat das Einhorn mit der Keule beworfen, um Rahon zu retten, Vater Tosar, aber …»
«Wo – wo ist er?»
«Da drüben muss er liegen …»
Zaghaft mit geweiteten Augen nähert sich Tosar der Stelle. Schweigsam folgen ihm die anderen.
Hier liegt in seinem Blut, mit kurzem Atem, noch halb auf einer niedergedrückten Erlenstaude, Tjuwal, der kühne Keulenwerfer. Seine rechte Seite zeigt eine furchtbare Risswunde. Der Alte beugt sich nieder und befühlt den Verwundeten.
«Tjuwal, du wirst nicht sterben», entscheidet er mit einem langen Atemzug. «Mein Sohn, hast du Schmerzen? Willst du essen?»
«Nein, … Wasser … Heilkraut …»
«Das ist richtig», nickt Vater Tosar und sieht sich um. «Brecht zwei armdicke Birkenstämme und holt Wundschwamm!»
Während man in der Nähe die Stämme krachen hört, wäscht der heilkundige Häuptling seinem Sohn die Wunde aus, legt zerriebenen Heilklee und Wundschwamm auf, verbindet den Liegenden mit einem Fellfetzen und betet dabei zu seinem Gott in der Höhe. Die zwei Birkenstämme werden dem Verwundeten je quer unter dem Rücken und den Kniekehlen hindurchgeschoben.
«Zu den Wuronen!», befiehlt der Stammvater.
Alle schauen ihn erstaunt an und Hurni, sein jüngerer Sohn, kann seine Verwunderung nicht zügeln.
«Zu den Wuronen, Vater? Die Menschenfleisch essen und den Gott der Tiefe anbeten?»
«Ja, zu den Wuronen. Bis zu unseren Höhlen und Zelten haben wir mit dem Verwundeten drei Tage. Zu den Wuronen nur einen! Wir leben in Frieden mit ihnen.»
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