Leseprobe meines Märchens «Schlingel & Schlingelinchen 1: Die Geschichte aller Geschichten», aus dem Buch «4 fabelhafte Seelenmärchen aus der Schweiz»
Unsere Welt ist voller Geschichten.
Wenn Du ihnen lauschen und
über sie staunen kannst wie ein Kind,
egal wie alt Du jetzt bist,
sind jederzeit Wunder möglich.
Tanja Alexa Holzer
Es war einmal ein Schlingel, der … Was? Ihr wisst nicht, was ein Schlingel ist? Und ein Schlingelinchen kennt ihr auch nicht? Da wäre Schlingelinchen aber ganz schön enttäuscht, wenn sie wüsste, dass ihr sie gar nicht kennt. Schliesslich verdankt ihr dem Schlingelinchen alle Gutenachtgeschichten, die ihr mit euren Menschenohren jemals hört! Na dann muss ich wohl anders mit der Geschichte dieser wundersamen Wesen beginnen. Sie ist auch wirklich chaotisch und verworren und die zwei Wesen sind ganz speziell, das verspreche ich euch.
Aber eigentlich ist es nicht nur die Geschichte zweier Schlingelwesen, sondern auch eine Geschichte über eine wahrlich gute Zwergentat, über die zarten Blüten einer innigen Liebe, und es ist die Geschichte aller Geschichten.
Die Schlingelwesen leben überall auf der ganzen Welt, in den Wäldern, in den Alpen, an Flüssen und Seen, am Meer, bei den Pinguinen am Südpol und bei den Eisbären am Nordpol und in allen Ländern zwischendrin. Sie sind etwa so gross wie Kinderhände und wie die Hände verschieden gross sind, so sind auch die Schlingelwesen unterschiedlich hoch- oder kleingewachsen. Eigentlich sehen die Schlingelwesen aus wie Menschen, einfach viel kleiner und sie haben ein wirklich riesiges Problem: Die Schlingelwesen sind fast vollständig unsichtbar. Sie sind nicht nur fast unsichtbar für die Menschen, sondern auch für die Tiere, Engel und Elfen. Sogar die Schlingelwesen selbst können einander nicht richtig sehen. Das ist wirklich ein grosses Problem, denn sie laufen ständig aneinander vorbei, können nicht miteinander reden und auch nicht zusammen lachen. Sie sind deswegen ziemlich alleine.
Wenn ihr ganz aufmerksam, mit weit aufgesperrten Augen durch die Natur geht, vielleicht, ja, wer weiss, seht ihr doch tatsächlich eines Tages ein Schlingelwesen. Es gibt nämlich nur wenig an diesen wundersamen Schlingeln, das wir alle sehen können. Das sind ihre Augen und Haare. Da die Schlingels aber nicht besonders gross sind, so haben sie auch nicht wahnsinnig viele Haare. Sie tragen lustige, meistens wirr zerzauste Büschelchen auf ihren Köpfen, die gerade mal so dick sind wie ein Daumen – nicht wie dein Daumen, sondern etwa so dick wie der Daumen eines echt grossen Mannes.
Diese wenigen Haare leuchten Tag und Nacht, diejenigen der Schlingeljungs in Blau und die Büschelchen der Schlingelinchen in Pink. Wenn ihr also sehr viel Glück habt, so seht ihr vielleicht plötzlich ein leuchtender, blauer, winziger Punkt über den Boden huschen, oder einen in Pink über ein Hölzchen hüpfen.
Nur ein einziges Wesen gibt es auf der ganzen Erde, das nicht nur ihre Haare, sondern die vollständigen Schlingels sehen kann. Das ist eine bestimmte Art von Zwerg. Wie ihr vielleicht wisst, bevölkern auch die Zwerge die ganze Welt und es gibt unglaublich viele verschiedene Zwerge: Steinzwerge, Baumzwerge, Wasserzwerge, Spitzbubenzwerge, Buschzwerge, Bauernhofzwerge, Wüstenzwerge, Kaputtmachzwerge, Wachstumszwerge, Faulzwerge, Singzwerge, Putzzwerge und sicher noch weitere hundert Arten.
Der Singzwerg ist zuständig für die Töne des Windes, wenn dieser durch die Baumzweige streicht. Der Wüstenzwerg passt auf, dass der Sand in der Wüste stets am richtigen Ort liegt. Der Kaputtmachzwerg muss mindestens einmal pro Tag dafür sorgen, dass etwas kaputtgeht. Wenn also wieder einmal eine Tasse am Boden zerschellt, so war der Kaputtmachzwerg bestimmt nicht weit weg. Zum Glück gibt es auch den Ganzmachzwerg, der trägt ständig eine Leimtube bei sich und klebt alles Kaputte zusammen. Manchmal ist er so eifrig bei seiner Aufgabe, dass er auch Dinge zusammenklebt, die gar nicht zusammengehören. So gibt es Blumen mit zwei Blütenköpfen, Birnen mit zwei Stilen und ganz bekannt ist das schweizerische Weggli, das ihr beim Bäcker kaufen könnt. Seht euch ein Weggli an, das besteht auch aus zwei Teilen und wir können es leicht auseinanderbrechen. Auch da war ein Ganzmachzwerg übereifrig am Werk und klebte all die fein duftenden Brötchen zusammen.
Für unsere Geschichte mit Schlingel und Schlingelinchen ist jedoch eine ganz andere Zwergenart sehr wichtig. Es ist der Amorzwerg. Dieser spezielle Zwerg hüpft fröhlich, aber ganz leise durch unsere Welt. Man kann ihn nicht hören und wir Menschen können ihn schon gar nicht sehen. Bestimmt hat er die allerschönste und freudigste Aufgabe von allen Zwergen. Er verknüpft nämlich die Menschen miteinander. So hat er jede Mutter mit dem Vater verknüpft und umgekehrt. Die Mutter mit dem Kind, das Kind mit dem Vater und Freund mit Freund. Überall dort, wo zwei Menschen sich lieb haben, hat der Amorzwerg ein unsichtbares Band geknüpft und die zwei miteinander verbunden. Der Amorzwerg ist nämlich für die Liebe zuständig.
Nur der Amorzwerg kann die Schlingelwesen tatsächlich ganz sehen. Was für ein Glück, so kann der Amorzwerg als Einziger den Schlingels helfen, einander zu finden. Das ist ganz wichtig, denn es gibt nicht mehr so viele Schlingelwesen auf der Welt und so kann es passieren, dass ein Schlingel das ganze Leben ohne Schlingelinchen verbringen muss. Oder dass Schlingelinchen niemals ihren Herzensschlingel findet. Und beide irren alleine durch die Welt und die einzige Freude, die sie haben, sind ihre Aufgaben.
Direkt am Zürichsee in der Gemeinde mit dem fröhlichen Namen Lachen wohnen zwei spezielle Schlingelwesen. Neben Lachen gibt es ein nicht sehr grosses Gebiet mit Wiesen und Bäumen, kleinen Sümpfen und wild bewucherten Seeufern. Auf diesem prächtigen Flecken Natur erholen sich die Menschen, spazieren mit ihren Hunden, joggen oder fahren Rad. Kaum einem Menschen fällt auf, wie lebendig diese Natur bevölkert ist. Dort tummeln sich nicht nur Kleintiere wie Regenwürmer, Vögel, Igel und Käfer, sondern auch Elfen, Feen, Zwerge und zwei Schlingelwesen.
Im nächsten Dorf und im übernächsten und unglaublich viele Kilometer um die Dörfer rum gibt es keine weiteren Schlingelwesen, weder ein Schlingel noch ein Schlingelinchen. Die zwei hier in Lachen sind weit und breit eine Seltenheit.
Schlingelinchen liest wie alle Schlingelmädchen für ihr Leben gern. Das Lesen ist ihre Aufgabe. Stundenlang kann sie unterm Blätterdach sitzen und ein Blatt nach dem anderen betrachten. Aus den feinen Äderchen der Blätter liest sie und jedes Blatt enthält eine eigene Geschichte.
So ist die ganze Natur voller Geschichten und in jedem Frühling wachsen neue. Im Winter wird es Schlingelinchen aber langweilig, weil auf den Tannennadeln nur ganz kurze Geschichten Platz haben, die furchtbar schnell gelesen sind. Und andere Blätter gibt es nicht mehr. Ihr wisst doch, im Herbst verlieren die Bäume mit ihren Blättern auch die ganzen Geschichten und stehen viele Wochen nackt da. Erst dann spürt Schlingelinchen ganz stark, wie alleine sie eigentlich ist. So wird sie manchmal traurig, weil sie alleine frieren muss, ihr fehlen die Geschichten und sie wünscht sich, jemand könnte ihr eine erzählen.
Zum Glück wird es jedes Jahr wieder Frühling und Schlingelinchen kann ihr Alleinsein vergessen ...
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